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Forschungszentrum UCU-LMU: Gewaltforschung im Angesicht der Gewalt

15.10.2024

Interview mit Historiker Martin Schulze Wessel über das neue deutsch-ukrainische Zentrum für Geschichtswissenschaften

Engelsstatue

Eine der beiden Engelsstatuen, die den Eingang zum Nationalmuseum des Holodomor-Genozids in Kiew einrahmen. | © picture alliance / Photoshot | Kaniuka Ruslan / Avalon

In Lviv wird am 17. und 18. Oktober die Eröffnungskonferenz des deutsch-ukrainischen Zentrums für Geschichtswissenschaften stattfinden. Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, soll das UCU-LMU Mykola Haievoi Center for Modern History Massengewalt erforschen und die Zusammenarbeit zwischen der LMU München und der Katholischen Universität Lviv stärken. Professor Martin Schulze Wessel, Leiter des Zentrums auf Münchner Seite und Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Ost- und Südosteuropas der LMU, spricht im Interview über die Herausforderungen und Chancen einer wissenschaftlichen Kooperation mitten im Krieg.

Das neue Forschungszentrum UCU-LMU zur Massengewalt wird im Oktober eröffnet. Kann dies mitten im Krieg auch gefeiert werden?

Martin Schulze Wessel: Es ist eine schwierige Situation. Lviv liegt zwar in der Westukraine, weit entfernt von der Front, aber auch dort gibt es regelmäßig Angriffe. Als wir letztes Jahr für Planungsgespräche dort waren, ertönte nachts ein Luftalarm und wir mussten in die Keller flüchten. Die Forschenden und Studierenden dort auf dem Campus sind das gewöhnt, da es etwa zweimal pro Woche Luftalarm gibt. Dies zeigt, wie sehr selbst Städte fern der Front unter den russischen Angriffen leiden. Die Eröffnung verbinden wir deshalb nicht mit einer Feier an sich, sondern einer Konferenz, zu der einige von uns auch persönlich nach Lviv reisen werden.

Welche Themen wird man gemeinsam erforschen?

Das Zentrum wird sich auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts konzentrieren, beginnend mit dem sowjetischen Holodomor, dem großen, von Stalin verursachten Hunger in der Ukraine, bis hin zur deutschen Besatzungsgewalt im Zweiten Weltkrieg. Denn sowohl die Sowjetunion als auch NS-Deutschland betrachteten die Ukraine als koloniales Ausbeutungs- und Vernichtungsprojekt. In unserer Forschung wird es um die vielen Facetten von deutscher und sowjetischer Massengewalt gehen, um Hunger als Waffe, um Zwangsarbeit, um die Deportation insbesondere von Frauen aus der Ukraine nach Deutschland, um deutsche Besatzungsverbrechen und den Holocaust.

Inwieweit wird die Erforschung vergangener Gewalt durch die aktuelle beeinflusst?

Auf eine entsetzliche Weise. Zwei Wissenschaftler, die für unser Projekt vorgesehen waren, hatten sich als Freiwillige für die Front gemeldet. Einer von ihnen, Mykola Haievoi, ist am 26. August im Krieg gefallen. Von seinem Tod sind wir alle sehr betroffen. Das Zentrum soll nun nach unserem verstorbenen Kollegen benannt werden: UCU-LMU Mykola Haievoi Center for Modern History.

Schwerpunkte der Forschung

Porträt von Martin Schulze Wessel.

Professor Martin Schulze Wessel

© Historisches Kolleg

Welche Schwerpunkte legen Sie bei der Forschung?

Wir wollen nicht nur die großen historischen Linien untersuchen, sondern auch regionale Studien durchführen. Ziel ist es, den Mechanismen der Machtausübung und des alltäglichen Umgangs der Ukrainerinnen und Ukrainer damit näher zu kommen.

Oleksandr Kruglov vom Holocaust-Gedenkzentrum Babyn Jar in Kyjiv untersucht die deutschen Täterinnen und Täter während der Besatzung, mit besonderem Fokus auf die Stadt Kyjiv.

Für das regionale Profil des Forschungsansatzes ist auch eine Studie kennzeichnend, die schon vor dem Projekt entstanden ist, nämlich die Münchner Dissertation von Tobias Wals, in der es um das Überleben von Juden in der ukrainischen Stadt Schytomyr im Zweiten Weltkrieg geht. Eine beträchtliche Zahl von Juden überlebten den Holocaust. Manchen gelang das, indem sie auf der Seite der Roten Armee kämpften, ins sowjetische Hinterland gingen oder sich, seltener, unter der deutschen Besatzung versteckten. Tobias Wals geht der Frage nach, wie sich das auf einen Menschen und seine jüdische Identität auswirkte.

Was werden weitere Einzelprojekte sein?

Professor Yaroslav Hrytsak von der Katholischen Universität Lviv, der das neue Zentrum auf ukrainischer Seite leitet, wird eine Biographie des umstrittenen ukrainischen Politikers Stepan Bandera verfassen. Albert Venger von der Oles Hochar Universität in Dnipro widmet sich der Untersuchung der Kollaboration der ukrainischen Bevölkerung und der deutschen Minderheit mit der deutschen Besatzungsmacht sowie den sowjetischen Prozessen gegen Kollaborateure von den 1940er- bis in die 1980er-Jahre. Yuri Shapoval von der Akademie der Wissenschaften in Kyjiv erforscht die Tätigkeit der sowjetischen Geheimpolizei in der Ukraine in den 1920er- und 1930er-Jahren. Ich selbst verfasse schließlich eine Geschichte über die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine im 20. Jahrhundert.

Pionierprojekt in den Geschichtswissenschaften

Welche Bedeutung hat das neue Zentrum für die deutsch-ukrainischen Beziehungen in den Geschichtswissenschaften?

Es ist ein Pionierprojekt. Denn abgesehen von der „Deutsch-Ukrainischen Historischen Kommission“, die Yaroslav Hrytsak und ich nach der völkerrechtswidrigen russischen Annexion der Krim und dem Beginn des russisch-ukrainischen Kriegs 2015 gegründet hatten, gab es im Bereich der Geschichtswissenschaft bislang keine institutionelle Forschungsverbindung zwischen deutschen und ukrainischen Universitäten oder Instituten. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat seit Langem viele Verbindungen zu Polen oder, vor 2022, auch zu Russland, aber nicht zur Ukraine. Das neue Zentrum wird diese Lücke füllen.

Welche Ziele verfolgt es neben den wissenschaftlichen?

Wir wollen auch zur Aufklärung beitragen. In Deutschland besteht großer Informationsbedarf über die Ukraine, insbesondere über die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Wir planen, in Zusammenarbeit mit Museen und Dokumentationszentren wie dem NS-Dokumentationszentrum in München und dem Holodomor-Museum in Kyjiv Ausstellungen und Veranstaltungen zu organisieren. Außerdem werden wir uns in Schulen engagieren, um die Geschichte des Genozids zu vermitteln. Insbesondere müssen die sowjetische und die deutsche Gewalt zusammen betrachtet werden, was lange Zeit vermieden wurde.

Wo steht die ukrainische Geschichtswissenschaft im Vergleich zur Zeit vor dem Krieg?

Allgemein hat die Ukraine eine lebendige Geschichtswissenschaft, die durch ein hohes Forschungsinteresse gerade der jüngeren Generation geprägt ist. Mit dem Krieg haben viele Wissenschaftlerinnen das Land verlassen und zum Beispiel hier in München Stipendien und Förderungen erhalten. Somit hat der Konflikt sicher zu einer Internationalisierung der ukrainischen Geschichtswissenschaft geführt – auch über Europa hinaus. In den USA, wo ich gerade einen Forschungsaufenthalt verbrachte, konnte ich in Princeton unser neues Zentrum vorstellen und habe mich über das große Interesse sehr gefreut. Ob diese Internationalisierung die Geschichtswissenschaft in der Ukraine aber langfristig bereichern wird, etwa indem die Forscherinnen und Forscher in ihre Heimat zurückkehren, wird sich erst nach dem Krieg erweisen.

UCU-LMU Mykola Haievoi Center for Modern History:

Das Kooperationsprojekt ist am Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas der LMU und der Katholischen Universität Lviv angesiedelt und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 2,5 Millionen Euro über vier Jahre gefördert. Das Zentrum ist Teil eines Pionierprojekts, das die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Ukraine stärken soll. Insgesamt fördert das BMBF vier solcher Zentren, neben der Geschichte in den Bereichen Quantenphysik, Plasmatechnologie und Naturstoffforschung.

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